Verschiedene Erinnerungen an die Zeit zwischen 1957-1968

Nach der Volksschule erwarb ich meinen Lebensunterhalt von Rentierzucht und andere Naturnahe Lebensformen.

Ich wusste, weil meine Mutter es erzählt hatte, dass das Rentier für die Saami immer eine zentrale Bedeutung hatte. Sowohl als Jagd- als auch als Zuchttier, und auch als Symbol für die kulturelle Identität. Mein Heimatgebiet -INARI- hatte früher mit seinen fischreichen Seen die Saami von ihrem ursprünglichen, mühsamen Nomadenleben zur bequemeren Lebensart der Fisher gelockt. Heutzutage erwerben die Saami ihren Lebensunterhalt im Sommer vom Fischfang und im Winter von der Rentierzucht. Uralte Wald- oder Fischersaami, die meistens um den Inarisee herum wohnten, hielten den Fischfang für ihre Hauptsache und setzten die Pflege ihrer Rentiere hintan. Die Waldsaami hielten sich sowohl im Winter als auch im Sommer in der Waldregion auf; die Rentiere brauchen ja viel Fürsorge, damit sie nicht verirren, nicht verwildern, nicht von Wölfen verzehrt werden und nicht in den zahlreichen Herden der Bergsaami verschwinden.

Für mich und andere jüngere Generation war auf diese Weise die alte Saamikultur sehr wichtig und lebendig. In den Familien wurde damals nur Samisch gesprochen, und die älteren Menschen trugen Trachten. Sie hatten ein umfangreiches Wissen von Tieren und Pflanzen, wie man es sich nur erwerben konnte, wenn man sein ganzes Leben in der Wildmark verbrachte. Sie kannten seit uralten Zeiten die Heilkraft der Kräuter und sie verstanden es, sich gegen Nässe, Schneesturm und Kälte zu schützen. Diese Lehrzeit war für mich sehr bedeutungsvoll, damit ich später die Natur besser verstehen konnte!

Damals konnten wie heute die samischen Rentierhirten mit ihren Tieren zu den Sommerweiden frei im Gebirge und auf den Tundren laufen. Und im Frühwinter (=Herbst) begannen sie die Rentiere in die Wälder des Mittelgebirges und des Flachlandes zu sammeln. Im Frühsommer hatten sie die Kälbermarkierungen gemacht. Die Scheidung und das Schlachten der Herden wurden im Frühwinter (Oktober und November) durchgeführt.

Traditionelle und traditionsreiche Sammel- und Fixpunkte gehören zum Laufe des Rentierzüchterjahres. Das Leben der Rentierzüchter wird vom Lebenszyklus ihrer Tiere bestimmt. Im Frühjahr ziehen die Rentierkühe zu den Kalbungsplätzen im Fjäll, dem Kahlgebirge. Kurz vor der Brunstzeit (rykimäaika) im September suchten wir die Böcke zum Schlachten aus. Im Winter wanderten wir mit den Herden hinab zu den Weidegründen im Tiefland, um dort Flechten unter dem Schnee zu suchen.

Seit Jahrhunderten war der Arbeitshund ein wichtiger Arbeitspartner der Saami und wurde als Zugtier und zur Bewachung großer Rentierherden verwendet. Wir brauchten damals den Rentierhund fast jeden Tag.

Aber früher schon in älteren Zeiten war besonders der Fang wilder Rentiere wichtig. Nach den Erzählungen meiner Mutter hat man in früheren Tagen auch wilde Rentiere in Gruben gefangen, sodass sie während des Herbst- und Frühjahrfanges oft sogar 40 Rentiere geschossen hätten. Der Gebrauch, wilde Rentiere mit Lassos einzufangen, hat sich bis Ende des 19. Jahrhunderts erhalten. Wenn ich es zum ersten Mal hörte, beschloss ich solches irgendeinmal zu versuchen! Danach suchte ich die ganze Zeit die Gelegenheit. Aber wie lohnend der Rentierfang auch sein mag, so liegt es doch in der Natur der Sache, dass diese Nahrungsquelle immer unzuverlässig sein muss.

Meine Mutter erzählte mir auch, wie groß die Unterschiede zwischen Berg- und Fishersaami waren. Typisch für Bergsaami war Kühnheit ja Freimütigkeit, die bisweilen zu Verachtung des Anstands, der Sitte und des Gesetzes überging. Gröbere Vergehen sind zwar bei den Bergsaami ebenso selten wie bei den Fischern. Es gibt jedoch in dem menschlichen Zusammenleben hergebrachte Sitten, welche sich in den Geboten nicht ausdrücklich verzeichnet finden und von diesen hat der Bergsaami wenig Kenntnis. Damals als meine Mutter jung war, war die Lebensform der Rentiersaami ganz anders. Die Wildheit zeigte sich augenscheinlich schon in ihrem äußeren Leben. Um mit ihren Wohnungen anzufangen, so hielten sie sich gleich den meisten andern Wilden in elenden Zelten auf. Diese errichtete man so dass man vier bogenförmige Holzstangen in die Erde schlug, von denen je zwei einen Halbzirkel bildeten und in paralleler Richtung in der Entfernung einiger Ellen von einander aufgestellt waren. Diese wurden dann vermittelst einiger Querhölzer zusammengefügt und somit war das Gerüste oder das Untergestell fertig. An dieses setzte man nun Stangen in schließender Stellung, man ließ bloß ein kleines Zugloch für den Rauch und eine Türöffnung.

Nach dem zweiten Weltkrieg gab es in Inari zwei Arten von Rentierzucht: Berg- und Waldrentierzucht. Beide Rentierzuchtarten hatten den jahreszeitlichen Wechsel zwischen Grasfutter im Sommer und Flechten als Winterfutter.

In der Rentierzucht gab es auch Unterschiede hinsichtlich der Zahmheit der Rentiere. Man unterschied die intensive und die extensive Rentierzucht. Die erstere war früher in Inari sehr verbreitet; kleine Herden ziemlich zahmer Tiere wurden intensiv genutzt (Milch) und auch intensiv gehütet. Heute wird fast ausschließlich die extensive Rentierzucht betrieben.

Damals (1957-1968) waren die meisten Rentierzüchter vor dem ersten Weltkrieg geboren. Ihre Arbeitssprache war nur Samisch. Ich erinnere mich, wie die Wildmark damals rauh und karg war. Das Rentier und das Klima bestimmten den Jahresablauf, und wir mussten uns daran anpassen. Wenn es nötig war, arbeitete der Rentierhirt bis ans Ende seiner Kraft, doch genoß er auch das Ausruhen. Ich erinnere mich auch, wie ein Rentierzüchter immer willkommen in einer fremden Kote war. Wurde der Zug der Salami einmal durch Schneesturm aufgehalten und der Nordwind in unsere Kote drang, dann rückten wir beim Feuer eng zusammen, tranken Kaffee und waren vergnügt. Wer das einmal miterlebt hat, vergisst es nie wieder. Die Gastfreundschaft war von großem Wert.

In Muotkatunturi war das Leben früher schwer und der Tod lauerte überall. Neugeborene Rentiere, noch nackt und ungeschickt, waren eine willkommene Beute für hungrige Wölfe und Bären. Das Wolfsvorkommen erstreckte sich über das ganze Inari Umgebung, und besonders bei langen Frostperioden und hohen Schneelagen erfolgte eine starke winterliche Zuwanderung aus dem Osten. Das Jagdausmass lag dann immer noch deutlich unter der jährlichen Zuwachsrate. Die Jagd des Wolfes, der in Inari keine Schonzeit geniesst, konzentrierte sich in die schneereichen Monate November bis März. Vorrangig wurden Jagden mit Fähnchenschnüren veranstaltet.

Aber wie ist die Situation der Rentierzucht heute? Die Rationalisierung der Rentierzucht hat alles verändert! Die Rationalisierung innerhalb der Rentierzucht führte zur steigenden Anwendung moderner Technik. Der Kontakt miteinander und mit der Außenwelt kann mit Hilfe der Walkie-Talkies und Mobiltelefonen gehalten werden.

In einem noch so einfachen massiven Haus mit Elektroheizung wohnt es sich angenehmer als in einer Erdhütte. Dazu: Fernseher, Auto, Neonlicht, für die Kinder eine ordentliche Ausbildung in der Schule. Das alles kostet Geld, und Geld bringt der Fleischverkauf. Mehr Fleisch bringt mehr Geld; der Saami wurde zum Viehzüchter mit wechselndem Wohnsitz, die Herde zu einer Fleischfabrik. Jäger - Hirt - Unternehmer.

So hat sich das alles verändert. Das Rentier als ein magisches Zeichen auf der Schamanentrommel - das Rentier als Gefährte, Inhalt von Legenden und Liedern - das Rentier als Rohstoff einer "reindeer industry", der Rentier-Industrie.

Aber einmal im Jahr bricht die neue Ordnung zusammen, bei der Rentierscheidung. Nach dem Ende der Winterzeit konnten die Tiere den Sommer lang frei umherlaufen. Aber Ende September wurden sie in den Rentierzaun gesammelt, wo die Tiere zum Schlachten ausgewählt wurden. Diese Arbeit dauerte ein oder zwei Monate lang. Die Sammelarbeit war sehr schwer und verlangte viel Fähigkeit und Wissen.

Wenn - im Winter - aus der großen Herde die Schlachttiere (etwa jedes zweite Tier) aussortiert werden, da wird die Herde der panischen Rentiere zum Hexenkessel. Graue Tierkörper und Trachtenlappen kreisen, Lassos schwirren, Geweihstangen fliegen. Da ist alles ungezügelt, ausgebrochen, wild - wild, wie es immer war.

Aber das Leben der Rentiersaami ist verändert. Diese neue Zeit bringt den Saami auch Vorteile: warme Wohnstätten im Winter und die Möglichkeit, Motorschlitten, Auto und Flugzeug zu benutzen. Auch eine bessere Ausbildung für die Jugend ist vorgesehen.

Nachteile von solchen Veränderungen: alle Bequemlichkeiten kosten Geld. Früher konnte eine Saamifamilie gut von 150-200 Rentieren leben, heute kommt sie mit 450 Tieren kaum noch zurecht, und durch Arbeit in Dienstleistungssektoren oder im Wald muss Geld dazuverdient werden. Die frühere Geruhsamkeit ist in Hast gewichen, und da die Hirten verschiedene Arbeit machen, verwildern die Rentiere.

Meine Voreltern vor etwa zwei Jahrhunderten lebten als Nomaden das ganze Jahr über in der Kote. Heutzutage wohnen alle Rentierzüchter im Winter in richtigen Häusern. Aber damals, wenn ich zum ersten Mal an eine Rentiersammlung teilnahm, konnte ich mich in einem Haus nicht recht heimisch fühlen. Ich saß auf dem Fußboden, wie ich es von der Kote her gewohnt war. Der Boden in der Kote war mit einer dicken Schicht von Birkenreisern bedeckt. Wir lebten auf dem Fußboden und schliefen zwischen weichen Rentierfellen.

Ein wenig von den Raubtieren


Unser Rentierrevier umfasste damals das Muotkatunturi Gebirge, über 200 000 Hektare. Es gab durchaus unterschiedliche Landschafts- und Klimazonen. Hundertzwanzig Kilometer lang erstreckt sich das Gebiet - vom Flachland mit eingesprengten Ackerweiden im östlichen Drittel, über den von Mittelgebirgscharakter geprägten mittleren Teil bis über die Baumgrenze ansteigende Gipfeln von 270 Metern. Die Landschaft wird überwiegend beherrscht von riesigen, grösstenteils unberührten Laub- und Nadelwäldern, sowie von einem Netz unzähliger Wasserläufe, Tümpel, Sümpfe und Seen. Die durch die Landschaft gezogenen Strassen ermöglichen erst einen Einblick, zumindest in einen Teil der urtümlichen Wildnis. Das Ökosystem wurde durch die Veränderungen nicht betroffen. Die behördliche Anordnung, dass alle Strassen sowie die Ränder der Forststrassen und Schotterwege sofort mit Pflanzen begrünt werden müssen, erwies sich als ausserordentlich vorteilhaft für Bären, Wölfe, Vielfrasse und Wildhühner.