Rentierweidewirtschaft - Natur zur Fleisch?

Seit 1970 hat sich die Anzahl der Rentiere in Lappland verdoppelt. Nach Schätzung der Sámi gibt es in Skandinavien heute knappt 60 000. Die rasante Entwicklung der skandinavischen Rentierweidewirtschaft ist auf die Intensivierung der Rentierhaltung zurückzuführen. Als Folge sind zahlreiche ökologische, aber auch soziale Konflikte unübersehbar.

Das Rentier war im Hohen Norden lange von Ankunft der skandinavischen Neusiedler bekannt, hatte aber erst mit den Anfängen der finnischen Besiedlung eine herausragende wirtschaftliche und strategische Bedeutung erlangt. Seine Zugkraft war gefragt, es diente der Milch- und Fleischversorgung und sein Leder war ein begehrter Werkstoff. Mit Hilfe der extensiv betriebenen Rentierweidewirtschaft konnten die weiten, dünn besiedelten Landstriche erschlossen und entsprechende Territorialansprüche geltend gemacht werden.

Die sámische Rentierwirtschaft der skandinavische Berg- und Wäldergebiete begründete die Rentierwirtschaft generell: Als ortsfeste extensive Rentierweidewirtschaft weist sie auch in den gro&zslig;en Betriebseinheiten eine äusserst niedrige Bodenproduktivität und einen geringen Arbeitskräfteeinsatz auf. Die heutige Rentierwirtschaft fand ihren Ursprung in Süd-Norwegen. Die damaligen Sámi erfanden das Hüteverfahren mit dem Rentier als wichtigstes Arbeitsmittel. Dort wurde es unter dem Einfluss der verschiedenen Sámigruppen weiterentwickelt und breitete sich in andere Weideregionen nach Norden entlang Köli-Bergketten aus. Kennzeichnen des frühen Rentiertriebes war eine vielseitige und mobile Arbeit mit einer eigenen Lebens- und Wertvorstellung, die sich als "Rentier-Subkultur" in den verschiedenen Regionen Skandinaviens nur geringfügig unterscheiden.

Die Gro&zslig;rentierwirtschaft fand auf den natürlichen Rentiermoosländern rasche Ausbreitung und dominiert noch heute die flächenmä&zslig;ige Landnutzung. Mit ihrem enormen Flächenanspruch ist die Rentierweidewirtschaft eine der Hauptursachen geworden für die extrem ungleiche Verteilung des Landeigentums und für die daraus hervorgehenden sozialen Konflikte.

Heutige Erscheinungsformen und Probleme des Rentiernomadismus

Mehr als jede andere Lebensform der Sámigruppen sorgte der Rentiernomadismus für einen steten Auf- und Niedergang, Wandel und Veränderung. Die Ursachen dafür sind wohl in erster Linie in den in der Gesellschaft des arktischen Kälteraumes strukturell angelegten Interessenkonflikt zwischen Rentiernomade und sesshafter Bevölkerung zu suchen. Dieser Konflikte, schon Gegenstand des Gleichnisses von Kain und Abel, findet man in zahlreichen Textstellen des Alten Testamentes, die über das Auftauchen nomadischer Stämme, ihre Bedrohung für die Sesshaften, ihr Verschwinden, ihr Aufgehen in bäuerlichen Gesellschaften oder über ihre staatenbildende Rolle berichten.

Auch die archäologischen Funde vor Ort in Lappland verweisen auf zahlreiche historische Veränderungen in der nomadischen Lebensweise der Sámi. Im Gegensatz dazu jedoch ist die Lage des Rentiernomadismus in der Gegenwart durch einen irreversibel scheinenden Trend gegenzeichnet, der z.B. in Zwangsansiedlung, Sesshaftwerdung, Übergang zum Ackerbau, Verlust an Weidearealen, an politischer Bedeutung, sozialer Wertschätzung und vor allem an räumlicher Freizügigkeit seinen Ausdruck findet.

Eingeleitet durch die Expansionspolitik der nordischen Staaten und ihrer konsequent fortgesetzten Kolonialpolitik, bü&zslig;ten die nomadischen Rentiergesellschaften sehr schnell ihre bisherigen politischen und ökonomisch Funktionen sowie die sie tragenden Organisation ein:

1. So engten z.B. der Aufbau und die räumliche Ausbreitung übertribaler Verwaltungen durch lokale skandinavische Kolonialmächte (z.B. Polizei, Militär, human- und veterinärmedizinische Kontrolle, Schulen, Gerichte usw.) die bisherige Zuständigkeit von Stammesführern und Ältesten ein, nahmen dem Stamm die Funktion als politische und ökonomische Existenzsicherung, führten zu dessen Fraktionierung und damit letztlich Auflösung.

2. Die neu entstehenden kolonial-und später nationalstaatlichen Gebilde mit häufig recht willkürlich festgelegten Grenzen (eine im altweltlichen Kältegürtel bislang unübliche Einrichtung) schränkten die für die mobile Tierhaltung notwendige Freizügigkeit ein, hatten deren ständige Kontrolle zur Folge und führten nicht selten zu militanten Konflikten, in denen die sámischen Rentiernomaden zumeist unterlagen.

3. Die Durchquerung des Raumes mit modernen Verkehrswegen und Transportmitteln nahm den Rentierschlittenkarawanen die ökonomische Existenzgrundlage, öffnete die rentiernomadischen Lebensräume einem überlokalen Marktgeschehen, zu dem die traditionelle nomadische Rentierwirtschaft selbst nur wenig beizutragen in der Lage war. Es lie&zslig;en sich noch weitere "Pfade" des Niederganges nomadischer Tradition nachzeichnen. Eine andere Erklärung bietet die These, dass dafür letztlich irreversible, gesamtgesellschaftliche Veränderungen innerhalb des nordischen Kältegürtels verantwortlich sind. Sie wurden durch die Präsenz der Kolonialmächte ausgelöst und durch den Einfluss der skandinavischen Industrieländer und der Eliten der Nationalstaaten fortgesetzt. Sie werden gemeinhin mit dem Begriff Modernisierung assoziiert. Dadurch erhielten der Rentiernomadismus und die nomadischen bzw. tribalen Sámigesellschaften das stigmatisierende Image von Rückständigkeit und Anachronismus. Daraus leiteten die Verantwortlichen fast überall das Recht ab, nicht nur die tribalen Sámiorganisationen zu zerstören, sondern auch die ihnen zugrunde liegende mobile Wirtschaft einzuengen oder ganz und gar beseitigen zu müssen.

Als wesentlicher Teil der Politik zur Erschlie&zslig;ung Lapplands wurde in den 70er und 80er Jahren die Expansion der gro&zslig;betrieblichen Rentierwirtschaft durch die Regionalentwicklungsbehörden gefördert; sie setzten mit staatlichen Anreizen wichtige Impulse zur Nutzung der Weidefläche. Die Ursachen sind komplex: Lokale Interesse, regionale Prozesse und wirtschaftliche Entscheidungen spielen dabei eine wichtige Rolle. Durch die flexiblen Investitionsmöglichkeiten erweist sich die Rentierweidewirtschaft als bevorteilt gegenüber den anderen, auch ökologisch angepassteren Landnutzungsformen. Nach Mauri Nieminen trägt in Lappland vor allem folgender Zusammenhang zum Erfolgt der Rentierhaltung bei: Die Inwertsetzung von Land und Ressourcen wird gemeinhin von drei unterschiedlichen wirtschaftlichen Vorgehensweisen bestimmt. Es sind dies

  • die Extraktion, bei der die Ausbeutung von erneuerbaren und nicht erneuerbaren Rohstoffen im Vordergrund steht;
  • die Produktion, die einen höheren Einsatz von Energie, Arbeit und Kapital erfordert und damit laufende Erträge ermöglicht und
  • die Spekulation, die auf einen Wertzuwachs des Grunderwerbs setzt.

In Nord-Lappland können mit der Rentierweidewirtschaft alle drei Formen der Inwertsetzung miteinander kombiniert werden. Für den rentierwirtschaftlichen Produzenten minimieren sich dadurch die natürlichen und wirtschaftlichen Risiken. Es profitieren davon nicht nur die Besitzer gro&zslig;er Betriebe, sondern auch Kleinbesitzer, obwohl sich deren wirtschaftlichen Strategien deutlich voneinander unterscheiden.

Ein weiterer wichtiger Aspekt: Der Anteil von Naturrentierweiden nimmt seit den vergangenen Jahrzehnten stetig ab und beträgt nach den Agrarzensusdaten und Holzwitrscaft von 1991 bereits weniger als die 10 % der Gesamtweidefläche. Die Naturweiden in den Waldgebieten erfordern ohnehin die Aussaat von Weidegräsern; auch in den lappländischen Berggebieten werden Zusehens natürliche Grasländer durch angesähte Weidefläche ersetzt. Als Weidesaat dienen arktische Gräser unterschiedlicher Gattungen.

Der nomadischen Rentierhaltung und den relevanten, ausgedehnten Weidegebieten muss und kann in diesem Zusammenhang eine besondere Funktion zufallen. Dabei ist hier keineswegs an eine Rückkehr zu der eingangs geschilderten Lebens- und Wirtschaftsweise gedacht. Vielmehr geht es um eine mobile Rentierhaltung, die auf dem reichen Erfahrungsschatz des traditionellen Nomadismus aufbaut, jedoch den Bedingungen und Erfordernissen der heutigen Zeit angepasst ist. Dazu gehören z.B.

  • garantierte Nutzungssicherung und ökologisch verantwortliche Regenerationskontrolle der saisonalen Weiden,
  • Informationsdienste über lokal und zeitlich wechselnde Futterangebote,
  • der Einsatz moderner Transmittel beim Weidewechsel sowie
  • eine mobile human- und veterinärmedizinische Versorgung.

Bedacht sei auch die Einführung einer ausschlie&zslig;lich den Tierhaltern dienlichen,

  • marktbezogenen Produktionsorientierung und effektiver Absatzorganisationen, ggf. sogar
  • zeitlich begrenzter Preisgarantien und Fleisch- sowie Tierimportbeschränkungen.

Nicht zuletzt müssen die Infrastruktur, Einrichtungen und Versorgungsdienste der weidebedingten Mobilität der Rentierzüchterfamilien optimal entsprechen. Dabei handelt es sich ganz offensichtlich nicht mehr um eine Sáminomadismus traditionellen Stils und auch nicht um kapital- und kostenintensive tierwirtschaftliche Gro&zslig;betriebe der modernen Entwicklungshilfe. Die Voraussetzungen für eine derartige mobile und auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Rentierhaltung sind im Prinzip leicht zu erfüllen. Die lokalen und internationalen politischen Entscheidungsträger müssen nur entsprechend handeln. Gefordert ist in erster Linie die Einsicht, dass weite Teile dieser nordische Länder - sollen sie nicht ungenutzt bleiben oder die dorthin abgedrängten oder dort lebenden Samigruppen nicht absoluter Armut verharren - über eine angepasste Wirtschafts- und Lebensweise in Wert gesetzt werden können. Auch müssen die Landesentwicklungspläne sektorübergreifend angelegt sein und die Bedürfnisse einer mobilen Rentierhaltung, z.B. nach produktionsbedingter, weidegemä&zslig;er Freizügigkeit Rechnung tragen. Die diskriminierende Einstellung vieler Bürokraten gegenüber der mobilen Lebensweise muss ein Ende finden. Grundprinzip sollte dabei jedoch - wie zukünftig wohl bei allen Entwicklungsma&zslig;nahmen - nicht in erster Linie eine Marktproduktionssteigerung sein, sondern die Lebensraum- und Arbeitsplatzerhaltung, nicht die Ertragserhöhung, sondern die Ressourcenbewahrung sein. Doch entscheidend ist die Tatsache - und dieser Einsicht kann sich heute niemand mehr verschlie&zslig;en -, dass von dem bisherigen, technologiegeleitenden und kapitalintensiven Entwicklungsdenken Abschied genommen und in alternativen Konzepten gedacht werden muss. Eine auf Selbsthilfe, Selbstverantwortung sowie Nachhaltigkeit gerichtete Überlebens- und Existenzsicherung, wie sie der traditionelle Sámi-Rentiernomadismus bot und eine mobile Rentierhaltung im oben skizzierten Sinne darstellt, könnte - die notwendigen Rahmenbedingungen vorausgesetzt - ein wirkungsvoller Beitrag zur Formulierung und Realisierung dringend notwendiger, alternativer Entwicklungskonzepte darstellen.